Immer weniger Studenten sind den Anforderungen an einen Lesesaalbesuch gewachsen - warum?
Ich kenne den Grund. Die erste Hürde beim Besuch der WiWi-Bibliothek in der Spandauer Straße besteht darin, Tasche und Jacke loszuwerden. Denn 47 der insgesamt 59 abschließbaren Schränke sind defekt, der Rest seit Wochen besetzt - von trägen Kommilitonen, die dort ihr Stullenpaket endlagern. So bleibt mir nur die Möglichkeit, mein Zeug im Vorraum des Lesesaals abzulegen und zu hoffen, daß ich es dort später wiederfinde. Für den Gang in den Lesesaal brauche ich also erstens Mut. Zweitens muß ich eine gute Kurzstreckenläuferin sein. Denn die Tische des Lesesaals sind meist schon fünf Minuten nach Öffnung besetzt. So sprintet man am besten gleich nach Vorlesungsende über Gänge und Treppen in den zweiten Stock. Ein beliebter Trick besteht darin, sich während der Vorlesung kurz aus dem Saal zu schleichen und mit Schal und Zeitung einen Tisch zu belegen. Doch trotz aller Mühen hat man letzteren nur selten für sich allein, weswegen ich drittens nicht unter Platzangst leiden darf. Teile ich meinen Tisch, dann muß ich die Bücher auf den Schoß nehmen, den Hefter unter den Schreibblock schieben und meine Arme an den Körper gepreßt halten. Oder sollte ich beim nächsten Mal reichlich Knoblauch essen?
Zu guter Letzt brauche ich das Gespür eines guten Pfadfinders, denn der Student an sich ist ein pfiffiger Bücherverstecker. Gern greift er zu seiner Geheimwaffe, um sich ein Buch zu sichern: Er schleicht sich kurz vor der Schließung noch einmal in den Lesesaal, greift sich flink das begehrte Exemplar und sichert es sich unterm Zeitschriftenstapel oder hinter der verstaubten Gardine für seinen nächsten Lesesaalbesuch. Dabei ist die Ostersucherei längst vorbei. Vielleicht sollte ich mein Gespartes doch lieber in eigene Bücher investieren. Dann brauche ich meine Kraft nicht mehr in Mutproben, Kurzstreckenspurts, Büchersuchen oder Knoblauchverzehr zu stecken.