Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 06.04.1996, Rubrik Hochschule


Wortverworrenheit

Denkbahnen frei, Ohren zu: Vier Monate in der Bibliothek

Hallo, hört mich jemand? Psst! nicht so laut, ich bin in der Bibliothek. Seit vier Monaten komme ich jeden Tag, denn: Ich mache jetzt mein Diplom. Vor mir dicke Bücher, ein abgebissener Bleistift und Exzerpte, Exzerpte! Alles wie gezirkelt auf dem Tisch. Neben mir mein Nachbar. BWLler. Trägt ein Glenchecksacko von Bogner und benutzt 'Jil Sander II'. Seit zwei Wochen sitzen wir so zusammen. Stumm. Heute habe ich zum erstenmal 'Hallo' gesagt. Und er? Sieht mich an, als wäre ich ein Außerirdischer. Blöder Affe! Ist einer von diesen Laptoppern. Den ganzen Tag klickert und klackert er auf seiner Tastatur, daß meine Gedankennadel ständig springt: transzendental, trans- zen-den-tal, traans-zeen-den-taaal.

Aber vorne, die Mediziner, die können sich konzentrieren. Sind bienenfleißig. Kommen morgens um neun mit Thermoskanne, grünem Delicious und Kinderschokolade. Und dann bis zum Abend Multiple choice. Werden niemals müde, so wie ich nach der Mensa. Schwere, schwere Lider. Verschwommener Blick auf die Zeilen. Diesmal gewinne ich den Schlaf gegen dich, Lethe. Sage ich mir jeden Mittag, und schon sinkt der Kopf auf die Brust.

Doch dann, plötzlich, Schritte. Klack, klack, klack geht das auf dem grauen Filz. Stöckelschuhe? Da werde ich wach. Rotes Kleid, schwarze Haare . . . transzendental! Vermutlich Kunsthistorikerin. Sieben Hälse recken sich, biegen sich nach links, nach links, nach links. Auch mein Chinese vorne ist still geworden, murmelt sonst immer Vokabeln. Macht mich wahnsinnig wie die Angst, jetzt: Ich schaff' es nicht! Darum: Augen auf den Text geblickt, Denkbahnen frei, Ohren zu.

Ohren? Neben mir klackern die Tasten, ein Buch fliegt vom Tisch, husten rascheln flüstern scharren lachen, 'Marion Ammrich zur Ausgabe der Bibliothek!'. Halt! Ich werfe meinen Rettungsanker, stecke die Geräuschdämmer in die Muscheln: Ruhe, Ruhe. Jetzt kann ich lesen, endlich! Und auf einmal sind die Seiten überschienen und statt der bangen Wortverworrenheit steht Abend Abend überall auf ihnen (Rilke!). Ich blicke auf und sehe: Gebeugte Rücken, entspannte Gesichter. Der Laptopper? Tippt leise. Der Chinese? Träumt still. Die Kunsthistorikerin? Ist vertieft (zum Glück!). 17:42 Uhr und kein bißchen müde.

Nur wegen dieser Stunde bin ich hier. Wenn das Licht fällt und die Geräusche dunkler werden, wenn mein Buch im Schatten der Dämmerung liegt und die kleinen Lämpchen auf den Tischen angehen, wenn die Bibliothek von der Dunkelheit wie von Schnee überzogen ist, dann liebe ich mein Diplom. Im Schein der Leuchte exzerpiere ich, ich lese und verstehe, glaubt mir, jedes Wort.

MARC HOCH